Bücher von Fritz Walter gibt es viele. Weis­heiten sogar noch viel mehr. Kein Tur­nier, kein kom­mender Welt­star, keine modi­sche Erschei­nung im Fuß­ball, die der alte Fritz nicht kom­men­tiert hätte. Und so finden sich auch zum aus­ufernden Tor­jubel, der bei der WM 1966 das erste Mal auch nach Europa schwappt, ein paar nette Zeilen. Wie diese aus Wie ich sie sah – Die Spiele zur Welt­meis­ter­schaft in Eng­land“, Hin­ter­grund ist das Ver­halten des Eng­län­ders Bobby Charlton, der im Halb­fi­nale gegen Por­tugal soeben das 1:0 geschossen hat: Nach diesem gelun­genen Streich voll­führte Bobby einen Luft­sprung nach dem anderen, dabei schleu­derte er seinen rechten Arm in die Höhe, als wolle er ein Lasso werfen. Diese Art von süd­ame­ri­ka­ni­scher Freu­den­kund­ge­bung ist zur Zeit hoch in Mode. Man sieht sie bei fast allen Tor­schützen. Sie ist also auch den kühlen, sach­li­chen Briten nicht fremd.“

Bekannt­lich ändern sich die Zeiten. Seit der süd­ame­ri­ka­ni­schen Las­so­wer­ferei ist viel Wasser die Themse runter geflossen, heute gilt nur ein wohl­über­legter und in Trai­nings­la­gern ein­stu­dierter Tor­jubel – im Ide­al­fall samt der ganzen Mann­schaft plus Betreu­er­stab – als sze­ne­taug­lich. Die Liste derer, die spon­tane Gefühls­aus­brüche mit schau­spie­le­ri­schen Glanz­ein­lagen ver­wech­selten, ist lang. Ein alter Hut ist die Koks-Ein­lage“ von Liver­pools Robbie Fowler, der sich einst, um gegen den Vor­wurf der unge­setz­li­chen Ein­nahme puder­zu­cker­ähn­li­cher Drogen zu pro­tes­tieren, nach einem Tor vor die Tor­aus­linie kniete und so tat, als ob er die weiße Begren­zungs­kreide mit den Nasen­lö­chern auf­saugen wolle. Eine hirn­ris­sige Idee, die Fowler einige Wochen Sperre kos­tete, aber irgendwie immer noch Esprit und Witz hatte. Weit weniger geschmack­voll pro­du­zierte sich der Uru­gu­ayer Sant­iago Silva, der einen schnöden Elf­me­ter­treffer für Vélez Sárs­field tat­säch­lich mit der Imi­ta­tion eines Herz­todes fei­erte. Silva bekam dafür übri­gens nicht mal eine gelbe Karte. Womit wir bei der Bun­des­liga wären.

Groß­kreutz – ein Mann mit einer Frisur, die Fritz Walter gefallen hätte

Genauer gesagt: Beim Rück­run­den­auf­takt zwi­schen Bayer Lever­kusen und Borussia Dort­mund. Der zunächst etwas unspek­ta­ku­lären Partie ver­lieh Dort­munds Kevin Groß­kreutz – ein schlack­siger Mann mit einer Frisur, die Fritz Walter ver­mut­lich gefallen hätte – ersten Glanz, als er den Ball nach 49 Minuten ins Lever­ku­sener Tor sto­cherte. Von frei gewor­dener Euphorie ange­trieben, galop­pierte Groß­kreutz sogleich in die nahe Kurve des hei­mi­schen Anhangs und ließ sich von brül­lenden Teen­agern und krei­schenden Män­nern in die Arme schließen. Ein rüh­rendes Bild – statt die Eck­fahne des Geg­ners zu begatten, sich in Wer­be­banner ein­zu­rollen, Fin­ger­herzen ins weite Rund zu ver­teilen oder sich voll wilder Ver­eins­zu­ge­hö­rig­keit aufs Tri­kot­wappen zu häm­mern, hielt Groß­kreutz sein so lustig unbe­schnit­tenes Haupt in die vor Freude hüp­fenden Körper der mit­ge­reisten Zuschauer. End­lich ist sie vorbei, diese öde Win­ter­pause, dachte man bei diesem Anblick. Nie wieder Ober­lip­pen­be­haarten Öster­rei­chern bei ihrer Liebe für Pyro­technik und Win­ter­sport zuschauen, dachte man bei diesem Anblick auch. Dann musste Groß­kreutz wieder zurück auf den Rasen, denn irgend­wann ist auch mal der schönste Jubel vorbei. Und wäh­rend Kevin Groß­kreutz Rich­tung Mit­tel­linie mar­schierte, zeigte ihm Schieds­richter Peter Gagel­mann die gelbe Karte. Ein­fach so.

Man kann diesen strikten Regel­ent­scheid akzep­tieren oder auf gut deutsch gesagt: ein­fach drauf scheißen. Das tat Kevin Groß­kreutz, der ein­fach kurz danach noch ein Tor schoss und diesen Treffer ganz pro­fes­sio­nell und nach Aus­le­gung des Regel­werks beju­belte. Er legte den Finger auf die Lippen und zeigte ins Publikum. Immerhin formten Groß­kreutz´ Finger kein Herz. Solch schwach­sin­nige Gesten sind von Fifa, Uefa, DFB, DFL und wie die Spiel­ver­derber alle heißen, aus­drück­lich erlaubt. Viel­leicht, weil die Herren in den zu engen Anzügen denken, die Fin­ger­herzen würden ihnen zuliebe geformt. Nach dem Motto: Danke, Funk­tio­näre, dass wir Fuß­ball spielen dürfen!

Groß­kreutz gegen Gagel­mann – das Spiel geht weiter

Man kann sich aber auch über die gelbe Karte von Peter Gagel­mann für Kevin Groß­kreutz fürch­ter­lich auf­regen und dem strammen Bremer vor­werfen, dass er ver­mut­lich selbst im Urlaub die kor­rekte Ein­hal­tung der Dezi­bel­stärken von Stra­ßen­mu­si­kern über­prüft und not­falls zur Anzeige bringt. Ver­mut­lich aber ist Gagel­mann, wie so oft, nur das kleinste Räd­chen im Getriebe; die arme Sau, die quasi mit Karte und Pfeife bewaffnet, die Beschlüsse der hohen Herren in den noch höheren Gre­mien und Beschlüssen, in die Tat umsetzen muss. So lange sich an der kruden Gesetz­ge­bung im Bezug auf jubelnde Fuß­baller nicht wieder etwas ändert, werden Gagel­mann und seine Kol­legen also weiter munter Ver­war­nungen für auf Zäune sprin­gende und sich der ver­schwitzten Tri­kots ent­le­di­genden Fuß­baller ver­teilen.

Was ist das nur für eine Welt, in der Miroslav Klose unge­straft seit Jahr und Tag die Öffent­lich­keit mit wilden Fin­ger­zah­len­spielen ver­wirren darf und Kevin Groß­kreutz dafür bestraft wird, weil er mit seinen Aus­wärts­fans das erste Tor im neuen Jahr beju­beln möchte?

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